Stellungnahme der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sichtung Verletzter/Erkrankter bei Großschadenlagen/Katastrophen (24.04.2009)
Vorbereitungen auf mögliche Großschadenereignisse mit einer erheblich höheren Anzahl von Betroffenen als bisher eingeplant, z. B. im Rahmen der Fußballweltmeisterschaft 2006, als auch reale Ereignisse, z. B. die terroristischen Anschläge in Madrid und London mit gleichzeitig mehreren Einsatzstellen, haben die Diskussion über die Organisation und den Ablauf der Sichtung angeregt.
Dies insbesondere, da die Diskrepanz zwischen verfügbaren und erforderlichen ärztlichen Kapazitäten zur Sichtung in der Frühphase eines Großschadensereignisses/einer Katastrophe real ist und zudem die Lagebeurteilung häufig genug durch weitere Faktoren zusätzlich erschwert wie z. B.:
- Schadensart, -verlauf und -ausbreitung
- Lage des Schadensortes (Entfernungen, Infrastruktur)
- Schadensgebiet (Größe, Übersichtlichkeit, Zugänglichkeit)
- Tageszeit, Witterung, Sichtverhältnisse
- vorhandene/nachalarmierbare Kapazitäten.
Ziel der Sichtung ist eine ärztliche Erstbeurteilung und Entscheidung über die Priorität der Versorgung von Patienten hinsichtlich Art und Umfang der Behandlung (Auszug DIN 13050).
Die Sichtung ist also eine ausgesprochen schwierige und besonders verantwortungsvolle ärztliche Aufgabe. (Siehe dazu auch: Weltärztebund, Handbuch der Deklarationen, Erklärungen und Entschließungen, Ärztliche Ethik im Katastrophenfall, Deutsche Fassung, 2008).
Dies bedeutet daher auch, dass alle Planungen für die Bewältigung von Großschadensereignissen/Katastrophen durch die verantwortlichen Führungen der an der medizinischen Lagebeurteilung und -bewältigung beteiligten Institutionen und Organisationen die frühestmögliche und verlässliche Bereitstellung eines verantwortlichen „Leitenden Notarztes“ am Schadenort beinhalten müssen.
Trotz der Diskrepanz zwischen verfügbaren und erforderlichen ärztlichen Kapazitäten zur Sichtung in der Frühphase eines Großschadensereignisses/einer Katastrophje ist
- eine zeitlich und räumlich adäquate erste sowohl individuelle Zusatndsbeurteilung eines jeden einzelnen Betroffenen sowie
- eine erste medizinische Gesamt-Lagebeurteilung
für die weiteren notwendigen Entscheidungen der EInsatzleitung notwendig. Das nichtärztliche Rettungsdienst-Fachpersonal wird deshalb beim Fehlen von Ärztinnen und Ärzten gezwungen sein, eine erste Zustandsbeurteilung vornehmen zu müssen.
Hierfür ist der Begriff „Vorsichtung“ zu wählen. Er weist eindeutig auf eine vorläufige Beurteilung hin, die in jedem Fall durch die immer erforderliche ärztliche Sichtung zu ergänzen ist.
Zur Umsetzung dieser Aufgabe bedarf das Rettungsdienst-Fachpersonal (Rettungsassistentin/Rettungsassistent) einer gesonderten, mit einer Prüfung abzuschließenden Fortbildung, denn schließlich werden Menschen „sichtungs-kategorisiert“, mit allen daraus resultierenden Folgen für den weiteren Handlungsverlauf. Des Weiteren werden zurzeit häufig Schwere- und Bedrohungsgrad durch das Rettungspersonal eher überbewertet und damit Versorgungskapazitäten, ggf. zum Nachteil anderer, unnötig gebunden.