Das BMG greift darin die Forderung nach einer verbesserten Rechtssicherheit für Notfallsanitäter auf. Diese sollen in lebensbedrohlichen Notfällen heilkundliche Maßnahmen ausführen, welche formal unter dem Arztvorbehalt stehen und nach bisheriger Lesart nur durch einen „übergesetzlichen Notstand“ zu rechtfertigen waren. Das BMG folgt mit der Formulierung im Kern einem Vorschlag der Bundesärztekammer vom März 2020, die vorgeschlagen hatte, das Ausbildungsziel nach § 4 Absatz 2 Nummer 1c des NotSanG als bedingte Berechtigung zur Ausübung heilkundlicher Tätigkeiten in den § 1 des NotSanG hineinzuschreiben. Die heilkundliche Kompetenz für Notfallsanitäter sollte in diesem Vorschlag bis zum Eintreffen der Notärztin oder des Notarztes oder dem Beginn einer ärztlichen oder einer teleärztlichen Versorgung gelten, wobei der Begriff „teleärztlich“ erstmalig in diesem Zusammenhang verwendet wurde.
Das BMG präzisierte diesen Vorschlag im aktuellen Gesetzentwurf 2, indem es als Bedingung für die eigenverantwortliche Durchführung von heilkundlichen Maßnahmen nicht nur das Kriterium der Lebensbedrohung oder drohender Folgeschäden für den Patienten aufführt, sondern darüber hinaus im Gesetzestext betont, dass es sich um Maßnahmen handelt, welche die Notfallsanitäter in der Ausbildung erlernt haben und beherrschen müssen (definiertes Kompetenzniveau). Darüber hinaus verfolgt das BMG die Intention, über die Weiterentwicklung von Mustern für standardmäßige Arbeitsanweisungen zur Delegation durch die Ärztliche Leitung des Rettungsdienstes im Sinne der „2c“-Bestimmungen des Ausbildungsziels zu einer länderübergreifenden Vereinheitlichung der rettungsdienstlichen Konzepte beizutragen, ohne dabei die originäre Zuständigkeit der Bundesländer in Frage zu stellen.
Bundesärztekammer (BÄK)
Die Bundesärztekammer geht davon aus, dass mit dem Reformvorschlag die Handlungs- und Rechtssicherheit der Notfallsanitäter verbessert werden kann 3. Um klarzustellen, dass die eigenverantwortliche Durchführung heilkundlicher Maßnahmen durch Notfallsanitäter auf unmittelbar notwendige Erstmaßnahmen beschränkt bleiben soll, schlägt die BÄK vor, den Begriff der „Erstversorgung“ in den Gesetzestext einzufügen, der bereits unter § 4 NotSanG in der Formulierung des Ausbildungszieles zu den sogenannten „1c“-Maßnahmen verwendet wird. Damit diese Erstmaßnahmen unverzüglich und eigenverantwortlich vorgenommen werden können, sollen obligatorische Rückfragen möglichst vermieden werden. Aus diesem Grund wird empfohlen, den missverständlichen Teilsatz unter Punkt 5 im Gesetzentwurf wegzulassen, der eine vorherige, möglicherweise zeitverzögernde Rückfrage nahelegen könnte. Ergänzend schlägt die Bundesärztekammer vor, bei der Erarbeitung von Mustern für standardmäßige Arbeitsanweisungen den Sachverstand der Ärztlichen Leitungen des Rettungsdienstes (ÄLRD) z.B. über deren Bundesverband BV-ÄLRD e.V. einzubeziehen.
Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI)
Die DIVI geht in ihrer Stellungnahme davon aus, dass entsprechend dem definierten Ausbildungsziel bereits jetzt eine ausreichende Rechtssicherheit für „1c“-Maßnahmen gegeben ist. Bereits in einer Stellungnahme vom Oktober 2019 zum Vorgänger des jetzigen Gesetzentwurfes hatte die DIVI dessen Intention unterstützt 4. Die DIVI hatte damals die Sorge anderer Verbände vor der eigenständigen Durchführung von invasiven Maßnahmen durch Notfallsanitäter in akuten Notfallsituationen im Sinne einer Übertragung heilkundlicher Aufgaben ausdrücklich nicht geteilt. Die DIVI begrüßte in jeder Hinsicht eine hochqualifizierte theoretische wie praktische Ausbildung für das gesamte Rettungsdienstpersonal und unterstrich gleichzeitig die Notwendigkeit eines notarztgestützten Rettungssystems auch in der Zukunft.
Der Vorschlag einer Entwicklung von Mustern für standardmäßige Arbeitsanweisungen durch das BMG im jetzigen Referentenentwurf wird als „interessante Neuerung“ gewertet. Jenseits von standardmäßigen Vorgaben wird die Aufgabe der Diagnosestellung durch Notfallsanitäter als problematisch eingeschätzt, da diese „ein differentialdiagnostisches Denken und entsprechende ärztliche Ausbildung und Erfahrung erfordert“. Auf diesem Hintergrund unterstützt die DIVI die bundesweite Einführung eines Telenotarztsystems sowie eine einheitliche Regelung zur Analgesie beim Bagatell-Trauma durch zertifiziertes Rettungsfachpersonal.
Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) und Berufsverband Deutscher Anästhesisten (BDA)
DGAI und BDA sehen die Notwendigkeit der Durchführung von zeitlich begrenzten und sachlich zu definierenden heilkundlichen Maßnahmen durch Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter im Rahmen der Versorgung von vital gefährdeten Patientinnen und Patienten in Situationen, in denen akut keine ärztliche Versorgung möglich ist. Sie sprechen sich für eine interprofessionelle Notfallversorgung durch Notärztinnen und Notärzte sowie Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitätern aus, sehen aber die generelle eigenverantwortliche Ausübung der Heilkunde nicht als die originäre Aufgabe von Gesundheitsfachberufen an.
In ähnlicher Weise wie die DIVI sprechen sich DGAI und BDA für eine „Konkretisierung der ärztlichen Kompetenz im Zusammenhang mit der teleärztlichen Konsultationsoption“ aus. Für die fachliche telemedizinische Unterstützung erachten sie eine spezifische notärztliche Kompetenz für notwendig und schlagen daher anstelle des Begriffs „teleärztlich“ die Formulierungen „telenotärztliche Versorgung“ bzw. „telemedizinische Abklärung durch eine Notärztin oder einen Notarzt“ vor. DGAI und BDA bieten ihre Unterstützung bei der Entwicklung von Mustern für standardmäßige Arbeitsanweisungen an und regen an, die Beteiligung von medizinischen Fachgesellschaften bei dieser Aufgabe im Gesetzestext zu verankern.
Bundesvereinigung der Arbeitsgemeinschaften der Notärzte Deutschlands (BAND)
Die BAND hält den Referentenentwurf für grundsätzlich geeignet, die Rechtssicherheit für die behandelnden Notfallsanitäterinnen und -sanitäter und vor allem die Sicherheit der Notfallpatientinnen und -patienten zu verbessern 5. Der Gesetzentwurf verdeutlicht nach Auffassung der BAND, dass heilkundliche Maßnahmen nach „1c“ zu den beruflichen Aufgaben der Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter im Rahmen einer „funktionellen Selbständigkeit“ zählen, während zugleich eine umfassende, von den aufgeführten Voraussetzungen unabhängige Heilkundebefugnis verneint wird, weil sie nicht Aufgabe der medizinischen Assistenzberufe ist.
Die BAND schlägt im Einklang mit DGAI und BDA die Ersetzung des Begriffs „teleärztliche Abklärung“ durch die Formulierung „telemedizinische Unterstützung durch eine Notärztin oder einen Notarzt“ vor. Da der Reformvorschlag zum NotSanG unter anderem auf die Patientensicherheit in lebensbedrohlichen Situationen fokussiert, hält die BAND auch unter Berücksichtigung einer regional unterschiedlichen Versorgungsrealität in der Telemedizin mindestens die Qualifikation als Notärztin oder Notarzt für erforderlich.
Die BAND begrüßt die vom BMG implizierte Ergänzung standardmäßiger Arbeitsanweisungen im Sinne der „2c“-Bestimmungen und verweist darauf, dass bereits heute landesrechtliche Verwaltungsvorschriften oder Empfehlungen der Landesministerien – zum Teil auch länderübergreifend – existieren, welche auf der Basis des sogenannten „Pyramidenprozesses“ entwickelt wurden und weiterentwickelt werden. In Ergänzung weist die BAND darauf hin, dass die Weiterentwicklung der standardmäßigen Arbeitsanweisungen entsprechend der dynamischen Entwicklung in der präklinischen Notfallmedizin ein kontinuierlicher Prozess sein muss, der auch in Zukunft von den notfallmedizinischen Fachverbänden mitgetragen wird und der nicht mit dem 31. Dezember 2021 (wie im Referentenentwurf vorgesehen) beendet werden kann.
Bundesverband der Ärztlichen Leiter Rettungsdienst (BV-ÄLRD)
Während alle vorgenannten Verbände ihre Stellungnahmen am Textentwurf des BMG ausrichten, geht der BV-ÄLRD einen anderen Weg, indem er einen davon unabhängigen „stimmigen und schlüssigen“ Formulierungsvorschlag mit abweichender Struktur macht 6. Durch konkrete Beschreibung der verschiedenen denkbaren Situation werden in diesem Vorschlag die Missverständnisse vermieden, die sich aus den juristisch geprägten Formulierungen des Referentenentwurfs insbesondere unter Nummer 5 ergeben können.
Bei der eigenverantwortlichen Durchführung von Maßnahmen zur Abwehr von unmittelbarer Lebensgefahr oder von schweren medizinischen Folgeschäden unter „1c“-Bedingungen sollen diesem Vorschlag zufolge die einschränkenden Bestimmungen des Heilpraktikergesetzes ausgesetzt werden.
Sofern standardisierte Arbeitsanweisungen im Sinne von „2c“ anwendbar sind, sollen diese auch in Lebensgefahr-Situationen genutzt werden. Außerhalb von lebensbedrohlichen Situationen dürfen Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter gefahrengeneigte heilkundliche Maßnahmen und Medikamentengaben im Rahmen einer Vorabdelegation standardisierter Arbeitsanweisungen durch die nach Landesrecht zuständige ÄLRD eigenständig anwenden („2c-Maßnahmen“), wenn sie dafür ausgebildet sind und diese beherrschen. Bei dieser Vorabdelegation trägt die ÄLRD die Anordnungs- und Überwachungsverantwortung, die Notfallsanitäterin bzw. der Notfallsanitäter die Durchführungsverantwortung. Ein vom Träger des Rettungsdienstes eingebundener Telenotarzt oder Notarzt kann Maßnahmen der ärztlichen Heilkunde am Einsatzort oder beim Transport delegieren.
Soweit bei akut lebensbedrohlichen Situationen die zur Lebensrettung erforderlichen Maßnahmen weder in standardisierten Arbeitsanweisungen beschrieben sind noch als ausreichend erlernt und beherrscht gelten können, dürfen Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter im Rahmen ihres verfügbaren Handlungswissens einen Rettungsversuch durchführen.
Im Hinblick auf die im Referentenentwurf vorausgesetzten Handlungskriterien des „Gelernten“ und „Beherrschten“ verweist der BV-ÄLRD auf eine eigene Publikation zu einem „Orientierungsrahmen für ein sicherstellbares Kompetenzniveau von invasiven Maßnahmen im Rettungsdienst“ 7 und die Notwendigkeit, das Kompetenzniveau regelmäßig zu überprüfen. Der BV-ÄLRD stellt missverständliche Formulierungen im Referentenentwurf klar, unter anderem durch Einführung des Begriffs „Rettungsversuch“.
Der BV-ÄLRD weist darauf hin, dass ein Haftungsrisiko nicht nur bei notfallmedizinisch fehlerhaftem Handeln gegeben sein kann, sondern auch „bei einem billigend in Kauf genommenen Abweichen von der Voraussetzung, Lebensgefahr oder schwere gesundheitliche Folgeschäden abzuwehren“. Dies kann als grob fahrlässig oder vorsätzlich gewertet werden und zivil- und auch strafrechtliche Folgen nach sich ziehen.
Anders als BÄK, DGAI und BDA sowie BAND sieht der BV-ÄLRD keine Regelungslücke für bundesweite Muster standardisierter Vorgaben. Unter Verweis auf die bestehenden überregionalen und interdisziplinären Abstimmungen im Rahmen des Pyramidenprozesses wird weder Bedarf noch Raum für ein neues Gremium beim BMG zur Entwicklung von Leitlinien oder Arbeitsanweisungen gesehen.
Deutsches Rotes Kreuz (DRK)
Nach Auffassung des DRK ist der Referentenentwurf in seiner Gesamtheit nicht geeignet, die Rechtssicherheit für Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter zu verbessern 8. Dadurch, dass die Voraussetzungen zur heilkundlichen Befugnis dezidiert an die im Lernziel formulierten Einschränkungen geknüpft sind, werde die Erlaubnis zur Anwendung invasiver Maßnahmen enger gefasst als unter der aktuell geltenden Regelung des rechtfertigenden Notstands im Sinne des § 34 StGB. Darlegungs- und Dokumentationserfordernisse zur Erlangung einer Rechtssicherheit würden im größeren Maß notwendig, als dies bisher der Fall ist. Ebenso sei die Problematik der vorweggenommenen Delegation nicht gelöst, die aus Sicht des DRK umstritten ist. Diese werde als zulässig vorausgesetzt, ohne dass die rechtliche Grundlage dafür erkennbar sei.
- https://drk-wohlfahrt.de/uploads/tx_ffpublication/Stellungnahme_von_DRK VdS_zu_dem_MTA- ReformgesetzFINAL pdf ??????
Paritätischer Gesamtverband
Auch der Paritätische Gesamtverband, dem u.a. der ASB angehört, geht davon aus, dass der Referentenentwurf nicht die erforderliche Rechtssicherheit schafft 9. Als Hinweis darauf wird die Begründung des Entwurfs genannt, in welcher ausgeführt wird, dass „die Ausübung der heilkundlichen Tätigkeit im Nachhinein als unzulässig zu bewerten“ wäre, wenn sich zeigen sollte, „dass etwa ein lebensbedrohlicher Zustand nicht vorgelegen hat.“ Damit werde eher „eine neue Normierung der aktuellen Gegebenheiten mit allen damit einhergehenden Rechtsunsicherheiten“ erreicht, als dass die für die Notfallsanitäter und Notfallsanitäterinnen bestehenden Rechtsunsicherheiten ausgeräumt und die Grundlagen für die Berufsausübung verbessert würden.
Auch die Entwicklung von standardmäßigen Vorgaben zu notfallmedizinischen Zustandsbildern gebe keine Rechtssicherheit mit Blick auf die Ausübung heilkundlicher Tätigkeiten, solange hierfür keine sichere Rechtsgrundlage bestehe. Bei der Entwicklung solcher Standards sollten nach Ansicht des Paritätischen Gesamtverbandes neben den Ländern auch die Bundesverbände der Hilfsorganisationen im Rettungsdienst angehört und beteiligt werden.
Der Paritätische Gesamtverband schlägt vor, zur Schaffung der erforderlichen Rechtssicherheit den vom Bundesrat im September 2019 vorgelegten Gesetzentwurf zu nutzen, der im Gegensatz zum jetzigen Referentenentwurf die Limitierung der Heilkundebefugnis auf die Definitionen des Ausbildungsziels nach „1c“ nicht enthält.
Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di)
Auch ver.di sieht mit dem Referentenentwurf die eigenverantwortliche Ausübung von heilkundlichen Tätigkeiten durch Notfallsanitäter und Notfallsanitäterinnen weiter eingeschränkt und die angestrebte Rechtssicherheit nicht sichergestellt10. Ver.di hält allerdings die Ausrichtung an den einschränkenden Bedingungen nach „1c“ in den Abschnitten Nummer 3 und 4 im Sinne der qualifikatorischen Voraussetzungen für die eigenverantwortliche Anwendung von heilkundlichen Maßnahmen für sinnvoll (im Gegensatz zu DRK und Paritätischem Gesamtverband). Im Hinblick auf die Berufspraxis sollten hier auch Maßnahmen zur Schmerzbekämpfung mit aufgenommen werden. ver.di kritisiert in erster Linie die „in der Praxis schwer umsetzbar“ und die gewünschte Rechtssicherheit konterkarierend erscheinenden Einschränkungen unter Nummer 5 des Referentenentwurfes und befürwortet deren ersatzlose Streichung. Unabhängig davon wird die Absicht des Gesetzgebers begrüßt, Muster für standardmäßige Vorgaben im Sinne des § 4 Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe c NotSanG zu entwickeln. Die Erarbeitung dieser Muster soll unter Beteiligung von Sachverständigen der Sozialpartner erfolgen.
Zuletzt verweist ver.di auf die Notwendigkeit der haftungsrechtlichen Absicherung dieser Tätigkeiten. Die Beschäftigten sollten durch eine Haftpflichtversicherung des Arbeitgebers durch eine wirksame gesetzliche Regelung umfänglich geschützt sein.
Johanniter-Unfall-Hilfe (JUH)
Einen alternativen Ansatz schlägt die JUH vor 11. Die Voraussetzungen zur Ausübung heilkundlicher Maßnahmen sollten nicht im NotSanG (Ausbildungsgesetz), sondern im Heilpraktikergesetz geregelt werden. Darüber hinaus soll präzisiert werden, dass die Übernahme heilkundlicher Tätigkeiten auf die Tätigkeit im rettungsdienstlichen Berufsalltag sowie damit vergleichbaren Situationen, wie zum Beispiel dem ehrenamtlichen Engagement im Bevölkerungsschutz, beschränkt ist, damit nicht Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitätern in ihrer Freizeit die Möglichkeit und die damit einhergehende Pflicht zur Ausübung heilkundlicher Tätigkeiten bekommen. Zur Ausarbeitung von (Muster-)Vorgaben sollten die entsprechenden medizinischen Fachgesellschaften anstelle der Bundes- und Landesministerien herangezogen werden, die sich bereits an der Ausarbeitung des Pyramidenprozesses beteiligt haben. Die Johanniter-Unfall-Hilfe stimmt zu, dass die Ausübung heilkundlicher Tätigkeiten an den dringend versorgungsbedürftigen Zustand der Notfallpatientin oder des Notfallpatienten zu knüpfen ist.
Deutscher Berufsverband für den Rettungsdienst (DBRD)
Der DBRD greift in seiner Stellungnahme im Wesentlichen die Formulierungen unter Nummer 5 des Referentenentwurfs auf, welche auch von den anderen Verbänden als zum Teil missverständlich beurteilt werden 12. Die vorangehenden Passus unter den Nummern 3 und 4 im Referentenentwurf, welche die einschränkenden Voraussetzungen für die eigenverantwortliche Durchführung heilkundlicher Maßnahmen beschreiben („bis zum Eintreffen der Notärztin oder des Notarztes“, „in der Ausbildung erlernt und beherrscht“, „um einen lebensgefährlichen Zustand oder wesentliche Folgeschäden abzuwenden“), bleiben unkommentiert.
Aus den Formulierungen des Referentenentwurfs unter Nummer 5 leitet der DBRD ab, es solle eine Verpflichtung festgeschrieben werden, trotz des fehlenden zeitlichen Spielraums in der Lebensgefahrsituation vor jeder invasiven Maßnahme einen Notarzt nachzufordern. Der Notfallpatient müsse auf eine effektive Behandlung durch den Notfallsanitäter warten, weil zuvor eine ärztliche Abklärung bzw. Absicherung herbeigeführt werden müsse. Dass das in einer Lebensgefahrsituation nicht gemeint sein kann, führen sowohl BÄK als auch BV-ÄLRD aus.
Nach dem Verständnis des DBRD „erwähnt der Gesetzgeber nicht, wie sich ein Notfallsanitäter verhalten soll, wenn ein lebensbedrohlicher Zustand vorliegt, die Maßnahme nicht über § 4 Absatz 2 Nummer 2 Buchstabe c delegiert wurde und der Notarzt noch nicht eingetroffen ist“. Die Grenzziehung zwischen lebensgefährlichem Zustand und dem Abwenden von Folgeschäden sei nicht geklärt, ebenso auch nicht die Frage, wann die Notfallsanitäterin oder der Notfallsanitäter abwarten und wann sie bzw. er handeln soll. Der DBRD rechnet demzufolge mit resultierenden Gewissenskonflikten bei der Abwägung, eigenverantwortlich invasiv tätig zu werden oder auf die ärztliche Freigabe zu warten.
Die Option einer telemedizinischen Unterstützung bei der im Gesetzentwurf geforderten ärztlichen Abklärung – sofern in der Gefahrensituation möglich – wird in Frage gestellt, da eine flächendeckende Versorgung durch einen „Telenotarzt“ noch nicht etabliert ist. Das Telenotarztsystem sei zudem „nicht geeignet, sämtliche Maßnahmen, auch invasive Tätigkeiten, zu begleiten, die der Notfallsanitäter im Rahmen seiner Ausbildung erlernt hat und beherrscht“. Es könne aber stattdessen in Zukunft zu einer sinnvollen Rückfallebene ausgebaut werden und „immer dann unterstützen, wenn der Notfallsanitäter alle notwendigen, auch invasiven, Maßnahmen ausgeschöpft hat und sich der Zustand des Patienten weiter verschlechtert“. Bereits im September 2019 hatte der DBRD eine Stellungnahme zur Ausrichtung der Telemedizin im Rahmen notärztlicher Konsultation formuliert 13.
Der DBRD prognostiziert Mehrkosten in dreistelliger Millionenhöhe aufgrund ausbleibender Effekte der Gesetzesreform auf die Effizienz des Rettungsdienstes. Daneben beklagt er eine drohende Verletzung der grundgesetzlich garantierten Freiheit der Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter in ihrer Berufsausübung und eine sinkende Attraktivität des Notfallsanitäter-Berufes mit der Folge eines weiter zunehmenden Fachkräftemangels. Vorschläge für alternative Formulierungen zum Referentenentwurf werden in der Stellungnahme des DBRD nicht gemacht.
Zusammenschau
Der parlamentarische Weg des Referentenentwurfs ist bekanntlich noch nicht zu Ende. Die Verbände hatten am 25.08.2020 Gelegenheit, ihre Stellungnahmen im Rahmen einer Anhörung zu erläutern. Mit nochmaligen Änderungen im Entwurf ist zu rechnen. Die ärztlichen Verbände stimmen in der Einschätzung überein, dass eine Verbesserung der Rechtssicherheit für Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter bei der eigenverantwortlichen Anwendung heilkundlicher Maßnahmen in lebensbedrohlichen Situationen notwendig und möglich ist und bringen eine Reihe konstruktiver Vorschläge ein. DGAI und BDA betonen die Bedeutung einer interprofessionellen Notfallversorgung, die BAND verwendet den Begriff der „funktionellen Selbständigkeit“ (in Anlehnung an die niederländische Terminologie), der BV-ÄLRD argumentiert mit dem Begriff „Rettungsversuch“ für nur schwierig im Voraus zu beschreibende Situationen und die DIVI macht sich für eine einheitliche Regelung zur Analgesie beim Bagatell-Trauma stark.
Im Gegensatz zur Haltung der ärztlichen Verbände sehen die Hilfsorganisationen und Verdi in dem Referentenentwurf keine ausreichende Basis zur Verbesserung der Rechtssicherheit. Insbesondere stehen die Formulierungen unter Nummer 5 des Referentenentwurfs in der Kritik. Die dort verwendeten Formulierungen werden verbandsübergreifend als missverständlich und in der Sache nicht hilfreich bewertet. Unterschiede zwischen den einzelnen Stellungnahmen gibt es dagegen zu der Frage, ob bundesweite Muster für standardisierte Arbeitsanweisungen sinnvoll sind und wer an deren Erarbeitung beteiligt werden soll.
Der DBRD hadert mit dem Entwurf, ohne aber die im Referentenentwurf aufgeführten einschränkenden Voraussetzungen für die eigenverantwortliche Durchführung heilkundlicher Maßnahmen ausdrücklich in Frage zu stellen. Die vermeintlich ungeklärten Fragen, die er in seiner Stellungnahme aus der Perspektive der Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter vom Referentenentwurf ableitet, sind vielmehr ausdrücklich Gegenstand des Ausbildungszieles und des Referentenentwurfs: Verhalten in lebensbedrohlichen Situationen, wenn keine Vorab-Delegation möglich ist; Unterscheidung von lebensgefährlichem Zustand und dem Abwenden von Folgeschäden; Erkennen von lebensbedrohlichen Situationen und Entscheidungsbereitschaft zum eigenverantwortlichen Handeln. In der Formulierung des BV-ÄLRD ist genau das die spezifische, im Ausbildungsgesetz vorgesehene, geregelte und erreichbare Qualifikation von Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitätern: die Vermeidung erheblicher Gesundheitsnachteile für den Notfallpatienten. Alle ärztlichen Verbände – ebenso wie der Gesetzgeber – erkennen an, dass hier eine umschriebene und rechtlich abgesicherte heilkundliche Zuständigkeit der Notfallsanitäter liegt. Die einhellig angesprochenen missverständlichen Formulierungen unter Nummer 5 des Referentenentwurfs jedoch sollten kein ausreichender Grund für den DBRD sein, die intendierten Ziele des Gesetzentwurfes im Ganzen nicht wahrhaben zu wollen und die Zusammenhänge zu verzerren.
Am Beispiel der Argumentation des DBRD zum „Telenotarzt“ wird deutlich, dass es ihm um etwas Anderes geht als darum, heilkundliche Maßnahmen innerhalb der im Ausbildungsziel vorgegebenen Grenzen („bis zum Eintreffen der Notärztin oder des Notarztes“, „in der Ausbildung erlernt und beherrscht“, „um einen lebensgefährlichen Zustand oder wesentliche Folgeschäden abzuwenden“) rechtssicher ausführen zu können. Eine telenotärztliche Unterstützung soll – auch wenn diese regional etabliert ist – erst dann zum Einsatz kommen, wenn die Notfallsanitäterin oder der Notfallsanitäter „alle notwendigen, auch invasiven, Maßnahmen ausgeschöpft hat und sich der Zustand des Patienten weiter verschlechtert“. Das objektive Fehlen des Notarztes an der Einsatzstelle in einer Situation mit akuter Lebensgefahr für den Patienten soll demnach durch einen frühzeitig eingreifenden Telenotarzt nicht einmal teilweise zum Besten des Patienten kompensiert werden können? Es solle besser auf die telemedizinischen Möglichkeiten zur notärztlichen Abklärung verzichtet werden, um „Nachteile … für die Kompetenzen des Notfallsanitäters und den Patienten“ und eine „Aushebelung des Ausbildungsziels“ 13 zu vermeiden? Mit dieser Auffassung steht der DBRD allein da.
Die verschiedenen Blickwinkel und Schwerpunkte der Stellungnahmen zeigen auf, dass es zur Rolle des Notfallsanitäters auch sechs Jahre nach Inkrafttreten des NotSanG noch Diskussionsbedarf gibt. Trotz vielfältiger Übereinstimmungen gibt es uneingeschränkt einheitliche Auffassungen weder in der Gruppe der ärztlichen noch der nicht-ärztlichen Verbände. Es scheint, als ob insbesondere der Zusammenklang der Begriffe Rechtssicherheit, Eigenverantwortlichkeit und definiertes Kompetenzniveau („erlernt und beherrscht“) weiterhin unterschiedliche Vorstellungen hervorruft. Auch scheint eine Steigerung der Attraktivität des Berufsbildes Notfallsanitäter bzw. Notfallsanitäterin durch die Übertragung weitergehender eigenständig ausgeübter Maßnahmen immer wieder Antrieb für die laufende Diskussion zu sein. Wir wollen mit dieser Synopsis dazu anregen, sich anhand der bereitgestellten Internet-Links über die Lektüre dieser Zusammenstellung hinaus mit den Argumenten der einzelnen „Player“ differenziert zu befassen.
Berlin im September 2020